Im Interview mit Maria Michalk (MdB), Gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion
Werpflegtwie: Die CDU betont immer wieder, dass die Familie als pflegende Instanz von tragender Bedeutung sei und daher verstärkt zu fördern wäre. Verschließt man hier die Augen vor der Tatsache, dass es nahezu flächendeckend an Plätzen in stationären Pflegeeinrichtungen fehlt?Michalk: Es entspricht dem natürlichen Bedürfnis der meisten Menschen, so lange wie möglich zu Hause zu leben. Diesen Wunsch haben wir in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schon lange aufgegriffen. Wir halten an der Zielsetzung ambulant vor stationär fest. Für die Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung entschließen sich pflegende Verwandte meistens erst dann, wenn sie an ihre eigenen Grenzen stoßen. Sehr oft aber sind es auch örtliche Entfernungen oder räumliche Gegebenheiten, die zum Entschluss der Heimunterbringung führen. Die betroffenen Pflegebedürftigen wollen es oft auch selbst nicht. Viele erleiden ein Gefühlschaos. Alle Beteiligten schwanken zwischen Traurigkeit, Schuldgefühl oder Erleichterung.
Deshalb ist die professionelle Beratung und Begleitung so wichtig, um für alle Beteiligten die beste Lösung für die jeweils sehr individuelle Situation zu finden. Und dafür sind natürlich ausreichend stationäre Pflegeplätze als Angebot vorzuhalten. Die Länder haben in den zurückliegenden Jahren auch mit Förderprogrammen Pflegeheime saniert, erweitert oder neu gebaut, oft nach einem Bedarfsplan. Natürlich können jederzeit Pflegeeinrichtungen auf privater Basis neu erstellt werden. Für alle stationären Einrichtungsträger gelten die gleichen Voraussetzungen und Bedingungen für das Betreiben eines Pflegeheims. Das ist wichtig, um einerseits Vertrauen aufzubauen und andererseits die Qualität in der Pflege zu sichern. Der Bedarf ist gewachsen, die Bettenzahl auch. Dies ist ein permanenter Prozess, von dem man nicht zu einem Zeitpunkt x sagen, dass Betten fehlen. Sicherlich gibt es auf der einen Seite Wartelisten, auf der anderen [Seite] freie Platzkapazitäten.
werpflegtwie: Auf Ihrer Homepage schreiben Sie, dass wir [Deutschland?] auf den demografischen Wandel „immer noch nicht umfassend reagieren“. Was wäre Ihrer Meinung nach eine angemessene/ umfassende Reaktion auf den demografischen Wandel? – Erläutern Sie gerne Ihre zwei wichtigsten Punkte genauer.
Michalk: Auf jeden Fall brauchen wir für die Gestaltung des demografischen Wandels mehr als bisher die gesellschaftliche Solidarität und allgemeines Wissen um die Zusammenhänge, denn wir werden diesen Prozess mit Anstand nur gestalten können, wenn jeder weiß, worum es geht. Es gab Zeiten, da war der Anteil der Alten proportional geringer zur Gesamtbevölkerung als aktuell. Und sie waren in Familienstrukturen viel stärker eingebettet als heute. Das Drei-Generationsmodell ist dem Vier-Generationsmodell gewichen. Deshalb stellt sich die Frage, wie künftig die Älteren auf gute Art leben können. Von den heute 85jährigen lebt jeder zweite allein zu Hause. Der ambulante Pflegedienst oder der Service „Essen auf Rädern“ sind oft die einzigen Gesprächspartner am Tag. Einsamkeit im Alter ist ein echtes Problem geworden. Deshalb sind die Seniorentreffs, auch Selbsthilfegruppen oder die Alltagsbegleiter eine erste und wichtige Antwort.
Der zweite Gedanke konzentriert sich auf die Vorsorge und präventive Maßnahmen. Es ist ein natürlicher Prozess, wenn sich mit zunehmendem Alter gesundheitliche Probleme bemerkbar machen. Alter bedeutet aber nicht automatisch Pflegebedürftigkeit. Durch eine gesunde altersgerechte Ernährung, möglichst viel körperliche Bewegung und Aktivitäten zur geistigen Anregung kann die gesundheitliche Situation stabilisiert bzw. Einschränkungserscheinungen hinausgezögert werden. Vorsorgende Hausbesuche in Haushalten mit älteren Bewohnern, um z.B. Sturzgefahren rechtzeitig zu erkennen und abzuwenden, sollten eine Selbstverständlichkeit werden. Hier sind echte Freunde, umsichtige Nachbarn aber auch der öffentliche Gesundheitsdienst mit freien Kapazitäten gefragt.
Als drittes möchte ich die Möglichkeit der Bildung von Wohngruppen ansprechen. Das ist nach meiner Beobachtung in Ballungsräumen eher leichter, weil meistens eine Mietwohnung aufzugeben ist, wenn in eine Wohngruppe umgezogen wird. In ländlichen Räumen, wo zumeist die Wohnverhältnisse auf Privatbesitz beruhen, ist das um vieles komplizierter, weil entweder die Übernahme des Eigentums durch die Familie organisiert oder gar ein Verkauf des Eigentums realisiert werden muss. Solche Zwänge zu erkennen, wird mehr und mehr auch eine kommunale Aufgabe der Daseinsfürsorge werden.
Und viertens muss unbedingt auf die neue Form der Mehrgenerationshäuser verwiesen werden. Wenn sich Familienstrukturen ändern, dann ist nicht das Zusammenleben von Jung und Alt zwanghaft beendet. Vielmehr finden sich neue Wahl-Familien, die gemeinsam in einem Haus leben, sich gegenseitig unterstützen und so voneinander profitieren. Das vor Jahren von der Bundesregierung initiierte Modellvorhaben der Mehrgenerationshäuser ist schon lange nicht mehr allein auf den Freizeitbereich ausgerichtet, sondern ist eine echte Wohnformalternative geworden. Ausschlaggebend dabei ist allerdings immer, dass die Menschen zueinander passen und sich finden. Das kann niemals zwangsweise geschehen. Deshalb bleibt die Gestaltung der demografischen Herausforderungen ein permanenter Prozess, dem ich viele Chancen und deshalb positive Impulse zuspreche.
werpflegtwie: Die großen privaten Träger stationärer Pflegeeinrichtungen haben einen deutlichen Ausbau ihrer Infrastrukturen angekündigt, weil die Nachfrage offensichtlich besteht. Widerspricht die marktwirtschaftliche Eigendynamik dem Kurs der CDU und ihrem Fokus auf „Pflege zu Hause“ also? Wie sieht Ihrer Meinung nach eine ideale Kombinationslösung aus?
Michalk: Dass private Träger stationäre Pflegeeinrichtungen ausbauen, ist nicht zu kritisieren, denn sie haben offensichtlich den Markt analysiert und verhalten sich entsprechend. Unsere Pflegeversicherung ist auch nach der Reform und damit der Einführung von fünf Pflegestufen keine Vollversicherung. Es bleibt bei der Begleichung des Eigenanteils, der nach dem neuen Gesetz einheitlich für alle Pflegegrade bundesdurchschnittlich auf 580 Euro festgelegt wird. Dies kombiniert mit den Leistungsbeträgen je nach Pflegegrad ist der allgemeine Satz für die Einnahmenseite der Pflegeeinrichtungen. Alles was darüber liegt, weil zusätzliche Angebote der Einrichtung den stationären Pflegeplatz verteuern, bezahlt der Pflegebedürftige bzw. die Angehörigen selbst. Von daher ist die Wahlfreiheit ein wichtiges Element. Deshalb dient Marktverbreiterung im stationären Bereich eher den Pflegebedürftigen, als Marktverknappung.
Im Übrigen sind viele gesetzliche Ansprüche in der ambulanten Versorgung für mehr Flexibilität im Alltag eingeführt worden. Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege lassen sich nach dem ersten Teil der Pflegereform ab diesem Jahr besser kombinieren bzw. ergänzen sich. Im Pflegestärkungsgesetz II wird die Wartefrist z.B. für die Inanspruchnahme der Kurzzeitpflege durch bisherige Leistungen in der Pflegestufe 0, neu im Pflegegrad 1, verkürzt. Tagespflege kann auch am Wochenende angeboten und genutzt werden. Diese und weitere Regelungen ermöglichen eine flexible Handhabung, auch in der Kombination von zeitweise stationärer Pflege und bei Besserung des Gesundheitszustandes z.B. durch Rehabilitationsmaßnahmen, von häuslicher Pflege. Der Automatismus, einmal Pflegeheim – immer Pflegeheim, ist nicht gottgegeben. In Zukunft wird sich der Trend verstärken, dass Menschen erst dann das Pflegeheim nutzen, wenn der höhere Pflegegrad erreicht ist. Darauf müssen und werden sich die Pflegeheime einstellen. Und das neue Gesetz eröffnet für die Pflegeheime die Möglichkeit, mit den Pflegekassen bei veränderter Patientenstruktur den Kostensatz der Einrichtung nachzuverhandeln.
Werpflegtwie: Die Pflege durch An- und Zugehörige blickt auf eine lange Tradition zurück. Verstärkt wird die Kritik laut, dass unser „moderner“ Lebensstil diese Form der Pflege mehr und mehr erschwert, gar unmöglich macht. Welchen strukturellen Herausforderungen steht diese Pflegeform heutzutage genau gegenüber und wie versucht man, diese Spannungsfelder politisch zu lösen?
Michalk: In der Tat erwartet die moderne Wirtschaftswelt von jedem Beschäftigten den vollen Einsatz. Die Arbeitsdichte ist enorm, der Zeitfaktor sehr wichtig. Die Forderung nach Gestaltung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht nur eine Frage von jungen Eltern, sondern auch eine Frage von allen, die zu Hause Pflegearbeit in unterschiedlichster Intensität vereinbaren müssen. Eine politische Antwort auf diese Herausforderung ist z.B. das Gesetz zur Familienpflege. Hier kann eine zeitlich befristete flexible Arbeitszeitgestaltung bei hälftiger Lohnzahlung vereinbart werden, was allerdings aus unterschiedlichen Gründen bisher nicht so in Anspruch genommen wird, wie eigentlich gedacht und möglich.
Für akute Notsituationen wurde im ersten Pflegereformgesetz neu geregelt, dass wie bei „Kind krank“ bezahlte Freistellung bis zu 12 Tagen auch im Pflegefall möglich ist.
Mit diesen wenigen Beispielen lässt sich erkennen, dass Politik durchaus Hilfestellungen will und durchsetzt.
Wie der einzelne im Arbeitsprozess befindliche Mensch allerdings selbst sich vom modernen Lebensstil treiben lässt oder ihn aktiv gestaltet, bleibt eine sehr individuelle Frage. Alles zur gleichen Zeit 100prozentig und immer zu schaffen, ist zwar sehr ehrgeizig, aber mit Sicherheit nicht gesund. Dort kommt auch der Trend her, dass pflegende Angehörige nach einer gewissen Zeit selbst stark „ausgebrannt“ sind und selbst Hilfe brauchen. Besser sind eine ehrliche Beratung und eine flexible Handhabung der Herausforderungen bis hin zu einer Auszeit, einer Teilbeschäftigung oder gar einem Jobwechsel. Einen Angehörigen zu pflegen, ist in der Regel zeitlich endlich. Es ist eine sehr wertvolle Lebenszeit für den zu Pflegenden, aber auch für die pflegenden Angehörigen. Der Lebensstil wird nicht von äußeren Faktoren getaktet, sondern von den menschlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten. Nirgendwo ist die rationale und emotionale Ebene so eng miteinander verknüpft. Daraus erwachsen auch Impulse für die Zeit danach, sowohl persönlich, als auch in der Arbeitswelt. Rücksicht nehmen, diszipliniert und liebevoll die Pflegearbeiten erledigen, neue Situationen aufnehmen und entsprechend reagieren, das ist der Alltag in der Pflege, gleich an welchem Ort. Der moderne Lebensstil darf niemals dazu führen, dass Mitmenschlichkeit vergessen wird.
Werpflegtwie: Worin liegen Ihrer Meinung nach die Stärken der deutschen Pflegebranche? Und von welchen Ländern können wir diesbezüglich noch etwas [Und was?] dazu lernen?
Michalk: Unsere Stärke in Deutschland liegt mit Sicherheit in der Tatsache des sehr gut ausgebildeten und engagierten Pflegepersonals. Ob Pflegehelfer oder Pflegefachkräfte, alle haben eine praxisorientierte fundierte Berufsausbildung, gleich ob als Erstausbildung, Umschulung oder Weiterbildung. Sie sind in stationären Einrichtungen bzw. im ambulanten Pflegedienst tätig und arbeiten eng mit dem medizinischen Personal, meistens dem jeweiligen Hausarzt, aber auch mit dem Palliativ- und Hospizdienst zusammen. Letzteres wollen wir noch verstärken. Als Gesetzgeber vergleichen wir natürlich die Strukturen in unseren Nachbarländern. Aber eine Systemkopie eines anderen Landes ist für mich nicht erkennbar und auch nicht notwendig, da jedes Land seine spezifischen Herausforderungen gestalten muss. Allerdings sehe ich bei Transparenz und Endbürokratisierung Handlungsnotwendigkeiten.
werpflegtwie: Denken wir in die Zukunft. Welche Form des Wohnens und ggf. der Pflege wünschen Sie sich für Ihr späteres Ich?
Michalk: Persönlich möchte ich so lange wie möglich in unserem Haus wohnen. Aber es ist nicht barrierefrei. Daran haben wir in unseren jungen Jahren nicht gedacht. Es macht Sinn, jede Art von Gebäuden von Anfang an barrierefrei zu konzipieren. Das hilft Familien mit kleinen Kindern genauso wie später im Alter. In der Zwischenzeit sollten möglichst viele die Unterstützung nutzen, die sowohl die Pflegekassen, als auch die KfW für die Errichtung von pflegegerechten Wohnverhältnissen anbieten.
Das häusliche Umfeld länger nutzbar machen außerdem viele technische Geräte im Haushalt sowie Warn- und Rufanlagen, ebenso moderne Kommunikationsmöglichkeiten. Sich darüber frühzeitig zu informieren und die Anwendung zu üben macht absolut Sinn.
Neben all diesen technischen Möglichkeiten, die in der Zukunft mit Sicherheit noch komplexer und bedienfreundlicher sein werden, braucht der Mensch in Zukunft ebenso menschliche Kontakte wie heute. Das Fernsehen darf dafür nicht Ersatz werden. Nichts geht über die Pflege der Familienkontakte und den ständig aktivierenden Umgang mit Freunden.
Foto: Deutscher Bundestag
Werpflegtwie bedankt sich für dieses Interview und die Einblicke in die Pflegepolitik der CDU. Das Interview führte Carolin Makus.
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Im Interview mit Dr. rer. cur. Markus Mai, Vorsitzender des Gründungsausschusses der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz
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Titelfoto: Flickr/ Roland O'Daniel (CC-Lizenz BY-SA 2.0)
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