80 ist das neue 60 - Oder: Der neue „Un-Ruhestand“

„Dass wir immer älter werden, ist bekannt. Der demografische Wandel ist der Ohrwurm der Sozialpolitik, untrennbar verknüpft mit der Warnung vor einem Kollaps der Renten- und Sozialsysteme.“ So heißt es in einem Artikel, der unlängst im Tagesspiegel erschien (Quelle).

Dort schreibt Anna Sauerbrey, selbst noch jung an Jahren, für die Tagesspiegel-Meinungsredaktion über das neue Altern in unserer langlebigen Gesellschaft. Tatsächlich kommen nur wenige Informationslektüren zu aktuellen gesundheits- oder gesellschaftspolitischen Themen ohne bildstarke Demografie-Szenarien aus. Zahlreiche Statistiken spicken jene Exkurse, in denen der Leser stets an die bevorstehende „Seniorenwelle“ erinnert wird. Längst verklärt zum organisationstechnischen Monstrum, zur gesamtgesellschaftlichen Mammut-Aufgabe, bleibt kaum eine Chance ungenutzt, die Zahlenparade einmal mehr tanzen zu lassen: „Innerhalb von 100 Jahren ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland von rund 40 auf rund 80 Jahre gestiegen. 1956 waren 100 Menschen in Deutschland über 100 Jahre alt, heute sind es bereits 14 200. 2030 wird ein Drittel der Deutschen älter als 65 sein.“, schreibt auch Sauerbrey in ihrem Artikel. Im gleichen Atemzug wird häufig betont, dass wir immer weniger werden: „Bis zum Jahr 2050 wird die Bevölkerung in Deutschland um rund sieben Millionen Menschen auf insgesamt 75 Millionen schrumpfen […]“, erläutert zum Beispiel die Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) in Anlehnung an die jüngsten Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (Quelle).

Dem schließen sich nicht selten dunkle Prognosen und (indirekte) Appelle an Politik und Bürger an. So sei der demografische Wandel und mit ihm der fortschreitende Strukturwandel bereits jetzt in unserer Gesellschaft stark spürbar und von Kommunal- bis Bundesebene ein ernstes Umverteilungsproblem zu erwarten. „Der Druck auf die gewachsenen politischen und sozialen Strukturen steigt.“, fasst die BPB zusammen. Ohne den Wahrheitsgehalt solcher Prognosen per se anzufechten, muss angemerkt werden, dass Vorhersagen, die zum Teil mehrere Jahrzehnte in der Zukunft liegen, mit einer gewissen Differenziertheit betrachtet werden sollten. Hochrechnungen stellen schließlich lediglich die Weiterführung der aktuellen Lage dar und können bestimmte (unvorhersehbare) qualitative Sprünge nicht berücksichtigen. Worin im speziellen die Herausforderungen des viel zitieren demografischen Wandels liegen und inwiefern dieser ebenso als Chance begriffen werden kann, darüber schrieb zum Beispiel Bernhard Frevel bereits im Jahr 2004 in seinem Buch „Herausforderung demografischer Wandel.“ (Quelle)

Doch was ist überhaupt das Alter? Den etablierten Zugängen folgend, kann zwischen dem kalendarischen, biologischen, psychologischen und dem sozialen Alter unterschieden werden. Günter Burkart schreibt hierzu: „Das Alter ist also keineswegs nur eine biologische Kategorie. Das soziale Alter ist nicht identisch mit dem chronologischen Alter, ebenso wenig wie biologisches und kalendarisches Alter identisch sind. Das kalendarische Alter (Zahl der Kalenderjahre) schreitet gleichförmig voran, von Tag zu Tag, nach dem immer gleichen Rhythmus der kosmischen Zeit. Nicht so das biologische Alter: Die Reifung des Organismus verläuft diskontinuierlich. Das gilt erst recht für das Erleben des Alterns (psychologisches Alter) und das soziale Alter (Altersnormen, Altersrollen).“ (Quelle)

Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass biologisches und kalendarisches Alter zunehmend entkoppelt werden. Dies ist nicht zuletzt auf den technischen und medizinischen Fortschritt unserer Zeit zurückzuführen. Das Alter strukturiert also merklich unseren Alltag bzw. unsere biografischen Perspektiven, eröffnet und begrenzt Handlungsspielräume und weist uns ebenso einen Platz in der Gesellschaft zu. Dabei scheint das Alter, so Schroeter & Künemund (2010), eine ganz natürliche Gegebenheit zu sein, quasi eine „Naturtatsache“. Vielmehr jedoch sei das Alter laut der Autoren als soziale Konstruktion aufzufassen (Quelle).

Dies wird insbesondere deutlich, wenn wir uns die stets wandelnden Altersbilder in unserer Gesellschaft näher anschauen. Hierbei ist vor allem auch die starke Heterogenität zu betonen. So lässt sich die häufig pauschal formulierte Altersgruppe „50+“ in einige weitere Altersgruppen unterscheiden. Innerhalb dieser Altersgruppen wiederum werden, je nach Beobachtungsschwerpunkt, zahlreiche andere Gruppierungen deutlich. Anna Sauerbrey schreibt dazu in ihrem Artikel: „Das Bild vom braun-beige gekleideten, leicht verschrobenen Einheitssenior stimmt nicht. Zu diesem Schluss kam auch der sechste Altenbericht der Bundesregierung, der 2010 veröffentlich wurde. Der Individualität des Alterns würde die Politik bislang nicht gerecht, so die Wissenschaftler. Einseitig ausgerichtete Altersbilder erschwerten die gesellschaftliche und individuelle Nutzung von Potenzialen im Alter und eine selbstverantwortliche und mitverantwortliche Lebensführung älterer Menschen.“ Der komplette sechste Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland „Altersbilder in der Gesellschaft“ ist hier einsehbar.

Auch Bundespräsident Gauck machte Altersbilder zum Thema seiner feierlichen Ansprache im Museum für Kommunikation, Berlin. Dort wurde am 31.03.15 die neue Ausstellung „Dialog mit der Zeit“ eröffnet. Alter müsse neu gedacht werden, so Gauck. „Lassen Sie uns das Alter bewusster neu denken – in Bildern vom Alter und vom Älterwerden, die auch die Potentiale dieser Lebensspanne beschreiben. Dann kann es uns gelingen, aus der alternden Gesellschaft eine noch stärker selbstbestimmte und starke Gesellschaft des längeren Lebens zu formen.“, lautet der Apell seiner äußerst positiv gestimmten Ansprache. Diese kann in Gänze an dieser Stelle nachgelesen werden.

Personen höheren Alters haben durch die zusätzlichen Lebensjahre in Gesundheit einen bedeutend großen Zeitraum gewonnen, der viel Platz für neue Gestaltungsansätze lässt. Viele nutzen die Zeit, um beispielsweise ein Studium aufzunehmen, sich sozial zu engagieren oder aber sie gehen voll und ganz in ihrer Großelternrolle auf etc. Dennoch darf ein gewisses In-sich-kehren am „Lebensabend“ nicht verurteilt werden! Ehrenamtlichkeit soll kein Zwang werden und Produktivität nicht das Maß aller Dinge. Bundespräsident Gauck formuliert es treffend in seiner Rede. Das Wort vom Ruhestand habe demnach ausgedient, meint Joachim Gauck. Das sei emanzipatorisch gemeint und die zentrale Handlungsanleitung der Alterswissenschaftler. Doch wenn der „Unruhestand“ zum Imperativ würde, verlieren wir die Freiheit, einfach auf der „Ofenbank“ zu sitzen und die Zeit vorbeiziehen zu lassen. Wir würden dann das Recht auf eine Existenz ohne Ziel und Zweck verlieren.

 

Foto: Flickr/Fofarama (CC-Lizenz BY 2.0)

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