Im Interview mit Pia Zimmermann - Pflegepolitische Sprecherin (MdB/Die Linke)

Derzeitig wird auf politischer Ebene über die zukünftige Form der deutschen Pflegeversicherung debattiert. Dabei steht vor allem die Frage im Raum, ob eine Übernahme sämtlicher Pflegekosten durch den Staat tragbar ist und welche alternativen Konzepte es geben könnte? Pia Zimmermann, ihres Zeichens pflegepolitische Sprecherin der Linken, kennt sich auf diesem Gebiet gut aus. Lesen Sie hier unser Interview mit ihr:

werpflegtwie: Auf Ihrer Homepage beziehen Sie Stellung zur aktuellen Pflegereform der Bundesregierung. Demnach wolle diese offensichtlich eine „Light-Version“ dessen, was eigentlich nötig (und möglich?) wäre. Aus den Statements auf Ihrer Seite geht hervor, dass das Teilleistungsprinzip der Pflegeversicherung abgelöst werden müsse von einer Art „Vollversion“, damit gesicherte Pflegeleistungen unabhängig werden vom Einkommen einer Person. Sie appellieren letztlich für „eine grundlegende Neuausrichtung der Pflegeversicherung […]“.

Welche wären die wichtigsten Punkte dieser Neuausrichtung und welche Wege der Finanzierung sehen Sie hierbei?

Zimmermann: Meiner Fraktion DIE LINKE und mir geht es darum, dass die Leistungen der Pflegeabsicherung so ausgestaltet werden müssen, dass es allen Menschen ermöglicht wird, selbstbestimmt zu entscheiden, ob sie ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflege- oder Assistenzleistungen in Anspruch nehmen wollen. Die individuellen Bedürfnisse der Menschen mit Pflegebedarf müssen berücksichtig und die davon ausgehende pflegerische Versorgung und Unterstützung gewährleistet, also vollumfänglich finanziert werden. Die so genannten „Hotel-Kosten“, also Kosten für Unterkunft und Verpflegung fallen da nicht drunter, denn diese Kosten entstehen ja nicht erst durch den Pflegebedarf.

werpflegtwie: Angenommen, der Staat übernimmt zukünftig alle anfallenden pflegerischen Behandlungs- (und Unterbringungs)kosten. Laut ver.di wäre dies „umstandslos finanzierbar“. Trotz eines zusätzlichen Finanzierungsbedarfs von jährlich rund 13,25 Milliarden Euro, könnte die erforderliche Beitragssatzanhebung hierfür „merklich unter 1 Prozentpunkt liegen“, heißt es im Gutachten von Prof. Dr. Markus Lüngen (Gesundheitsökonom an der Hochschule Osnabrück und hier im Auftrag von ver.di).

Wie bewerten Sie diese Einschätzung?

Zimmermann: In einer von uns herausgegebenen Studie wurde ein anderer Ansatz gewählt. Wir haben anders als ver.di kein Gutachten zur Vollversicherung in der Pflege in Auftrag gegeben, sondern vielmehr im Rahmen einer Simulationsstudie prüfen lassen, welche finanziellen Spielräume sich durch die Einführung einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in Gesundheit und Pflege und welche Auswirkungen sich auf die Beitragsentwicklung ergeben. Hauptergebnis ist, dass hochwertige Gesundheit und pflegerische Versorgung für alle langfristig finanzierbar ist, in der Pflege kann so der Beitragssatz dauerhaft unter zwei Prozent gehalten werden. Und zwar durch einen Ausbau der solidarischen Finanzierung. Das Hauptproblem bei der Finanzierung liegt in den Umbrüchen der Erwerbsarbeit: Zunehmende Erwerbslosigkeit und gebrochene Erwerbsbiographien, ein sich ausweitender Niedriglohnsektor und ausbleibende Lohnzuwächse haben geringere Einnahmen der beitragsfinanzierten Pflegeversicherung zur Folge. Zugleich wächst die Bedeutung anderer Einkommensarten. Auf die relativ schnell wachsenden Kapitalerträge müssen bislang fast keine Beiträge gezahlt werden. Mit der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege ließen sich diese Probleme lösen und die Finanzierung sozial gerecht und zukunftsfest gestalten.

werpflegtwie: Die politischen Stimmen streiten sich über die Tragbarkeit einer grundlegenden Neuausrichtung der Pflegeversicherung. Dies betrifft vor allem den Gedanken einer Pflegevollversicherung. Von Seiten der CDU z. B. kommt Gegenwind: In einem aktuellen Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 07.09.15 nannte die parlamentarische Staatssekretärin Ingrid Fischbach eine Pflegevollversicherung „weder dauerhaft finanzierbar noch sozial gerecht“.

Worin liegt bei einer Pflegevollversicherung die soziale Ungerechtigkeit bzw. wo stößt Ihrer Meinung nach der Solidaritätsgedanke an seine Grenzen?

Zimmermann: Manchmal frage ich mich, was die Bundesregierung unter „sozial gerecht“ versteht. Die derzeitige Ausgestaltung der Pflegeversicherung bevorzugt Vermögende und nimmt Arbeitgeber aus der Pflicht. Erstere werden dadurch, dass ein großer Anteil ihrer Einkommen aus Kapitalvermögen nicht verbeitragt wird, geschont und durch die Beitragsbemessungsgrenze kaum in die Pflicht genommen. Die Arbeitgeber beteiligen sich in der Pflegeversicherung mit einem de facto deutlich geringeren Anteil als in allen anderen Sozialversicherungszweigen: Mit der Einführung der Pflegeversicherung vor rund 20 Jahren wurde ein gesetzlicher Feiertag, der Buß- und Bettag, abgeschafft. Sachsen behielt den Feiertag bei, weshalb die Arbeitgeber dort einen um einen Prozentpunkt geringeren Beitragssatz als die Versicherten zahlen. Eine Pflegevollversicherung, die solidarisch finanziert wird, nimmt niemanden aus der Verantwortung, sondern verteilt diese einfach nur gerecht.

werpflegtwie: Zwei abschließende Fragen an Sie, Frau Zimmermann:

Erstens: Denken wir in die Zukunft. Welche Form des Wohnens und ggf. der Pflege wünschen Sie sich für Ihr späteres Ich?

Zimmermann: Ich möchte gerne solange es geht in meiner vertrauten Umgebung bleiben, in meinem Haus mit großem Garten. Über Unterstützung von meinem Partner, meinen Kindern und Enkelkindern werde ich bestimmt froh sein, wenn ich einmal pflegebedürftig werden sollte. Ich erwarte das aber nicht. Was ich erwarte ist, dass wir es bis dahin geschafft haben, die pflegepolitischen Verhältnisse so zu verändern, dass ich in meinem zu Hause von Pflegekräften gepflegt und unterstützt werde, die Zeit für mich haben ohne sich selbst aufreiben zu müssen und die gut bezahlt werden.

werpflegtwie: Zweitens: Worin liegen Ihrer Meinung nach die Stärken der deutschen Pflegebranche? Und von welchen Ländern können wir diesbezüglich noch etwas [Und was?] dazu lernen?

Zimmermann: Dass es überhaupt eine Absicherung für Menschen mit Pflegebedarf gibt, muss natürlich als soziale Errungenschaft anerkannt werden. In Deutschland stellen die Leistungen der Pflegeversicherung aber nur einen Zuschuss zur familiären oder ehrenamtlichen Pflege dar. Immer mehr Menschen leben alleine, ihre Kinder wohnen und arbeiten weit entfernt. Wer in der häuslichen Umgebung ambulante Pflege haben will, muss draufzahlen. Viele können sich das nicht leisten, weshalb Angehörige einspringen müssen, nicht nur finanziell. Oft übernehmen sie Pflegetätigkeiten, weil häusliche Pflege finanziell anders kaum machbar ist. Die Pflegepolitik der Bundesregierung ändert daran nichts. Meiner Ansicht nach kann viel aus den skandinavischen Ländern gelernt werden. Mir geht es dabei weniger um die Frage, ob ein steuerfinanziertes Pflegesystem besser ist als ein beitragsfinanziertes. Hier gibt es unterschiedliche historisch gewachsene Wohlfahrtsstaatsmodelle. Relevant ist, dass die Bereitstellung einer Pflege- und Betreuungsinfrastruktur als gesellschaftliche Aufgabe verstanden und finanziert wird und eben nicht in erster Linie die Familie die Verantwortung zugeschoben bekommt. In skandinavischen Ländern steht die Pflege unter der besonderen Verantwortung des Staates, wird öffentlich und demokratisch, nicht überwiegend über den Markt organisiert. Preisbereinigt steht dort dreimal so viel für pflegebedürftige Menschen zur Verfügung. Das bedeutet bessere Pflege und bessere Entlohnung. Dass dies auch in einem Sozialversicherungssystem möglich ist, zeigt die oben erwähnte Studie zur solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung.

Foto: Pia Zimmermann (MdB/ Die Linke)

werpflegtwie: Vielen Dank für Ihre ausführlichen Statements, Frau Zimmermann. Das Team von werpflegtwie freut sich auf weitere Interviews mit Ihnen.

 

Steigen Sie weiter in die Thematik ein:

Pflegende Angehörige: Die Kosten im Blick

Vereinigungen für pflegende Angehörige

Übersicht: Erstattungen für Pflege

Das Prinzip der Pflegeversicherung


Titelfoto: Flickr/ Roland O'Daniel (CC-Lizenz BY-SA 2.0)

Das Interview führte Carolin Makus

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